Das deutsche Familienministerium rühmt sich mit seinem Förderprogramm für Mehrgenerationenhäuser, die Begegnungsstätten seien eine „starke Leistung für jedes Alter“. Aber sind sie wirklich so sinnvoll wie behauptet? Und werden sie von alten und jungen Menschen überhaupt gewünscht? Wir haben die Argumente gesammelt und kommen zum Ergebnis: guter Wille, unzureichende Idee.
Als die Familienministerin Kristina Schröder Ende April 2012 feierlich das „Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser II“ startet, in dem in den kommenden fünf Jahren 450 Mehrgenerationenhäuser mit 40.000 Euro jährlich ausgestattet werden, spricht sie in Allgemeinplätzen, die wohl jeder so unterstreichen könnte: Die deutsche Gesellschaft ändere sich, man müsse dies als Chance begreifen blabla. Schön und gut, aber dann kommt der entscheidende Satz (ab 1’06):
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„Die Kommunen haben erkannt, dass die Mehrgenerationenhäuser durch ihre bedarfsorientierten Angebote wichtige Angebotslücken vor Ort schließen und damit für die Kommunen unverzichtbar sind.“
Auch dieser Satz ist absolut richtig. Aber genau darin liegt das Problem: Dass es überhaupt Angebotslücken vor Ort gibt, ist nicht hinzunehmen. Das zu ändern, wäre die eigentliche Aufgabe des Familienministeriums. Stattdessen werden mit einer vergleichsweise kostengünstigen Initiative – vor allem im ländlichen Raum – die größten Löcher im Sozialsystem gekittet. Eine umfangreiche Lösung, die das Problem an der Wurzel packt, ist das nicht.
Und das Angebot-Nachfrage-Argument ist nicht das einzige für Mehrgenerationenhäuser, das sich widerlegen lässt. In einer Informationsbroschüre des Familienministeriums liest man von der Möglichkeit für Begegnungen, die täglich über 40.000 Mal genutzt wird. Das ist sicherlich ein großer Verdienst, die Frage ist nur: Wer nutzt die Mehrgenerationenhäuser? Jedenfalls keine ethnischen Minderheiten, schreibt der Soziologe Frank Eckardt 2006. Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund wurde zwar in der Zwischenzeit mit ins Aktionsprogramm aufgenommen, doch 2010 hatten nur 143 der 500 Häuser dementsprechende Angebote im Programm – zu wenig in einer multikulturellen Gesellschaft wie der deutschen.
Und nicht nur in Bezug auf ethnische Minderheiten ist das Familienkonzept der schwarz-gelben Regierung zu konservativ. Eckardt schreibt, dass Mehrgenerationenhäuser keine Angebote haben, „die sich insbesondere an arbeitende Männer richten.“ Es wird weiterhin von der klassischen Arbeitsteilung der Geschlechter ausgegangen. Emanzipation? Pustekuchen.
Das gewichtigste Argument ist aber die Tatsache, dass die Mehrgenerationenhäuser gar nicht unbedingt erwünscht sind. Das Bundesministerium selbst führt in seiner Broschüre eine Statistik an, die besagt, dass der Kontaktwunsch von jungen zu alten Menschen und umgekehrt sehr gering ist. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Meinungen älterer Menschen, die wir für diesen Artikel eingeholt haben. Thérèse Clerc vom französischen Wohnprojekt der Babayagas hat zwar notgedrungen vier Wohneinheiten für junge Frauen in ihrer Alters-WG eingerichtet, aber auch nur, weil die Behörden sonst die Zuschüsse verweigert hätten.
Für Dorothea Hoffmeister von den OLGA in Nürnberg (siehe die Reportage in unserer Sendung) kam das Leben in einem Mehrgenerationenhaus nie in Frage: „Nicht jeder ältere Mensch lässt sich in die Projekte von Mehrgenerationenhäusern einspannen. Senioren sind immer verplant und können sich nicht auf Abruf um Kinder kümmern, wie das manchmal von ihnen verlangt wird.“ Außerdem schätzen ältere Menschen Ruhe ganz besonders, ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man mit Kindern ein Haus teilt. So kommt es, dass 2006 in über 39 Millionen deutschen Haushalten nur 282.000 Menschen generationenübergreifend zusammenleben.
Auch wenn sich unsere Gegenüberstellung sehr kritisch liest, verdammen wir Mehrgenerationenhäuser nicht grundsätzlich: Sie sind durchaus eine große Bereicherung vor Ort, aus allen genannten Gründen. Nur sind sie eben nicht geeignet, wie Kristina Schröder das sagt, „den Zusammenhalt der Menschen“ in einer alternden Gesellschaft umfassend zu stärken.
Hier sind zusammengefasst noch mal alle Argumente. Was ist eure Meinung zum Thema?
DAFÜR | DAGEGEN |
Generationenübergreifende Begegnung und Verständnis | Ethnische Minderheiten werden vernachlässigt |
Synergien durch gegenseitige Hilfe | Die Gemeinschaft ist oft nicht erwünscht |
Kulturelle Bereicherung vor Ort | Staat delegiert seine Verantwortung (Zwang zur Selbsthilfe) |
Fortsetzung der Geschlechterklischees |
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